Ein Tag im Gerichtssaal

Stress vorbei, heute das erste Mal wirklich gemerkt. Nirgends mehr Prüfungen, morgen ist Notenabgabe (Zeugnisse werden ja auf halbe Noten gerundet, keine Ahnung weshalb, und bisher hab ich noch keine aufgerundeten Noten gesehen, auch wenn mündlich zählt) – Es hört im Unterricht niemand mehr wirklich zu, wir wurden gestern mehrmals als „Kindergarten“-Klasse bezeichnet..

Nächste Woche ist letzte Woche, und diese Woche haben wir morgen Sporttag, heute  eine „Wirtschaft und Recht – Exkursion“. Wir wurden also 10 min vor normalem Schulbeginn an den Bahnhof bestellt, obwohl die Hälfte der Klasse wegen ihren Verbindungen erst später kommen konnte und der Prozess erst um Viertel nach begann. Von dort liefen wir die kurze Strecke zum Gerichtssaal, bzw. zum Feuerwehrmagazin Brugg, wo wir neben einem Pressevertreter hinten Platz nehmen durften.

Ich staunte, wie man so lange reden konnte, ohne viel zu sagen. Eine Verteidigungsansprache bedeutete durchschnittlich eine halbe Stunde Monolog, und es gab 5 Verteidiger. Man zähle noch die Tatsachen dazu, dass man nur ja keinen Lärm machen durfte und ich seit ein paar Wochen nicht vor Mitternacht schlafen gegangen bin aber die Stühle dafür zu unbequem waren. Eine solcher Gerichtsprozess gliedert sich in:

  • Befragung der Angeklagten (durch das Gericht)
  • Anklage des Staatsanwaltes (vertritt die Allgemeinheit, stellt Anträge für hohe Strafen)
  • Plädoyers der Verteidiger (vertritt die Angeklagten, ebenfalls vom Staat obligatorisch angestellt)
  • Antworten des Staatsanwaltes (geht nun auf die gegnerischen 5 Anwälte ein)
  • Antworten der Verteidiger
  • Letztes Wort haben die Angeklagten selber (falls Sie ihre Reue nochmals zeigen wollen)
  • Beratung des Gerichts (sehr unterschiedlich lange)
  • Urteilsverkündung (Gericht hat einstimmig beschlossen, dass… weil…)

Wir hatten uns in der letzten Doppelstunde gründlich vorbereitet, und wussten, was wir zu tun hatten: Einen Teil eines Angeklagten protokollieren. Beispielsweise musste ich mitschreiben, als Herr B. befragt wurde. Danach hatte ich nichts mehr zu tun. Die Angeklagten zitterten angespannt lauschend auf ihren Stühlen, wir eher weniger. Dennoch fiel mir auf, wie typisch die Szene aussah. Zwar kein Richterpult mit Holzhammer, doch sonst einige Klischees: Alle schwarz und korrekt gekleidet, Anzug, Krawatte, Hemd. Vorne sitzen 3 Frauen und 14 Männer, die jüngste Person ist die Gerichtsschreiberin, Rest ist über 60, ernst. Über die Hälfte trägt eine Brille. Die fünf Angeklagten hingegen mit kurzen, gegelten Haaren, Ausländer in den Zwanzigern, die Hände unnatürlich brav gefaltet.

Ich fragte mich, ob Staatsanwalt wohl ein guter Job ist. Dieser hier machte seine Sache sehr gut – Doch begegnet er dann nicht mit wachsend hoher Wahrscheinlichkeit einem früheren Angeklagten, der nun frustriert aus dem Gefängnis kommt, die Busse abzustottern hat (die er dem schmächtigen Anwalt verdankt) und diesem nun eines Tages oder Nachts auf der Strasse begegnet?

Kurzer Mittag im Migros-Restaurant, mit Pommes Frites und aussergewöhnlichen Schilderungen mancher Lehrer und Leute, wovon ich manche nicht glauben kann/will (bsp. dass eine Lehrerin die freiwillige Zusatzarbeit eines Kollegen auch nach 3 Wochen nicht fertig gelesen hat, aber als ungenügende Leistung zurückgeben will. – Update).

Zurück im Saal denke ich während einer 50-minütigen Rede (werden Argumente eigentlich besser, wenn man sie wiederholt wiederholt wiederholt..?) an Sinn und Zweck der auszusprechenden Strafen. Ich sehe heute zum ersten Mal Kriminelle von Nahem, Leute, die die nächsten paar Jahre im Gefängnis verbringen werden. Ist es vom Staat richtig, die jungen Menschen für ein paar Jahre einfach wegsperren? Welche Freundin, welcher Arbeitgeber und wie viele Kollegen warten wohl 4 Jahre auf einem? Die Taten sind vor 7 Jahren begangen worden, dennoch werden sie heute zu einigen Jahren Zuchthaus verurteilt. Hm.. Liegt der Sinn einer Strafe durch den Staat darin, die Täter zu resozialisieren und Rückfälle zu verhindern? Oder werden sie bestraft, um ihre Opfer zu rächen und die restliche Bevölkerung (wie auch sie) abzuschrecken? Beides.

Ein erfrischendes Ballspiel später (die ganze Klasse wirft einen kleinen Ball à la Volley im Kreis herum, amüsiert betrachtet von den gelangweilt umherstehenden Herren in lackierten Schuhen. Und wer jetzt an „Kindergarten“ denkt, soll den Kreis bitte verlassen), sitzen wir wieder im Saal. Es ist immer wieder von „Verfahrenskosten“ die Rede, die die Angeklagten selber getragen oder vom Staat übernommen werden müssen – Wie viel kostet wohl ein solches Gericht? Wie hoch ist der Stundenlohn eines Anwaltes? Wenn pro Verhandlung etwa zehn Juristen zwei Tage arbeiten müssen (offenbar noch einen weiteren für die Vorbereitung), wie hoch werden die Verfahrenskosten pro Person? Hoch.

Während der Beratung des Gerichts dürfen wir nach Hause gehen, müssen aber in einer Stunde wieder dort erscheinen. Ok, für mich mit Velo kein Problem, bin eine Glacé später wieder dort. Nach ein paar Minuten kommt ein Herr des Gerichts heraus und verkündet, dass die Besprechung eine halbe Stunde länger dauert. In der Zeit können wir einem Verteidiger Fragen stellen – Er erzählt uns u. A., dass man vor Gericht als Angeklagter lügen darf. Ich fragte weshalb, doch wie so oft bekam ich ausser „das ist das Recht der Beschuldigten bla, wovon auch rege Gebrauch gemacht wird bla“ keine Antwort. Als Zeuge darf man ja nicht lügen (obwohl Zeugenaussagen auch sehr ungenau seien) – Wieso also als Angeklagter? Keine Ahnung, frage morgen meinen Götti (Er ist Anwalt und ich arbeite jede Woche als Kuchenaufesser und Sekretär in seinem Büro, genialer Job).  Update: „Damit Verdächtige nicht mehr zugeben, als sie tatsächlich begangen haben.“ Lügen dem Staat gegenüber zu verbieten würde nicht funktionieren, wenn jemand sich nicht sicher ist, ob er eine Straftat begangen hat oder nicht, und die allfällige Bestrafung höher ist, wenn er nun bei einer Befragung lügt als wenn er die Tat gesteht. Und funktionieren, wenn nicht. Oder irgendwie so.

Nach der Urteilsverkündung (Jahre Anwalt + Jahre Verteidiger/2 ≈ Gefängnisstrafe) schaute ich „Fight Club“ zu Ende. Ja, WM lief auch, doch ich fand nach dem xten Spiel verliert es seinen Reiz, den unbekannten Sportlern in Südafrika zuzusehen, wie sie in der Mitte rumrennen und es viel zu selten fertig bringen, ein Tor zu schiessen. Und der Tausch hat sich gelohnt, kann ich empfehlen. (Trailer).

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